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Nr. 127.
Sonnabend, den 28. Oktober 1911.
48. Jahrgang.
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Zur parlamentarischen Krise.
Die Entscheidung des Deutschen
Nationalverbandes.
Unterrichtsminister Graf Stürgkh aus dem
Kabinette ausscheiden würde. Ob Freiherr
v. Gautsch auf diesem Wege eine Arbeitsmajorität
gewinnen kann, ist allerdings mehr als zweifelhaft.
Der Deutsche Nationalverband hat ein-
stimmig eine Entschließung gefaßt, in der
die Bedingungen, unter welchen die Tschechen in
die Regierungsmehrheit einzutreten bereit sind,
abgelehnt werden.
Ueber die betreffende Sitzung des Deutschen
Nationalverbandes wird folgendes verlautbart:
In der heutigen Sitzung des Deutschen Na-
tionalverbandes berichtete der Vorstand über die
gestern stattgefundene Besprechung mit dem Mi-
nisterpräsidenten, in welcher dieser die Forde-
rungen der Schechen, von deren Bewilligung
sie die Beteiligung an den Arbeiten des Hauses
abhängig machen, mitteilte. Diese Forderungen
sind?
Die Besetzung zweier Ressorts durch Beamte
tschechischer Nationalität; die Auswahl der Per-
sonen bliebe dem Ministerpräsidenten überlassen;
die Ressorts wurden nicht genannt. — In
allen Ministerien soll ein tschechischer Sektions-
chef sein. — Die tschechischen Richter, die bei den
Richter-Ernennungen in Böhmen übergangen
wurden, seien zu entschädigen. — Bis zur gesetz-
lichen Regelung des Sprachengebrauches bei den
Gerichten in Böhmen soll eine Besserung der
gegenwärtigen Verhältnisse daselbst veranlaßt
werden. Weiter verlangten die Tschechen die
Berücksichtigung Böhmens bei den Eisenbahn-
Vorlagen und bei der Durchführung des Wasser-
straßengesetzes und endlich die Befriedigung kul-
tureller Bedürfnisse, insbesondere die Ausgestal-
tung der tschechischen Universität in Prag und
der tschechischen Technik in Brünn.
Ferner äußerte sich der Ministerpräsident über
das Arbeitsprogramm des Abgeord-
netenhause's und sprach den Wunsch aus,
daß das Budget-Provisorium vor Weihnachten
erledigt und das Budget und die Wehrvorlagen
im Ausschusse in Beratung gezogen werden. Hin-
sichtlich der Vorlagen über die Besserung der Be-
züge der Staatsangestellten sprach der Minister-
präsident den Wunsch aus, daß dieselben schleunigst
erledigt werden, daß aber das Haus keinen Beschluß
fassen möge, welchen die Regierung unmöglich
annehmen könne.
An diese Mitteilungen knüpfte sich
eine längere Debatte, welche Vormittag abgebro-
chen und nach der Haussitzung um 4 Uhr fortge-
setzt wurde. Die Sitzung dauerte bis halb 8 Uhr
abends. Sie endete mit der einstimmigen
Annahme folgender
Entschließung:
„Die Tscheche'n machen die Erledigung
von Vorlagen, welche für Volk und Staat
von der größten Wichtigkeit sind, davon abhängig,
daß zwei Ressorts nationalen Beamten-Ministern
übergeben und eine Reihe anderer Forderungen
erfüllt werde. Einem solchen Drucke un-
ter wirft sich der Deutsche Natio-
nalverband nicht.
Ganz un an nehmbar erscheint dem Deut-
schen Nationalverbande insbesondere das Begehren,
daß beim Sprachengebrauche der lan-
desfürstlichen Behörden im Sinne der Forderung
der Tschechen vorgegangen werde, während, doch
die von beiden Teilen verlangte gesetzliche Regelung
erst zur Beratung steht. Gegen einen solchen Ver-
such, die richterliche Unabhängigkeit zu verletzn, wird
entschieden Verwahrung eingelegt. Auf solchen
Grundlagen ist ein Einverständnis nicht zu er-
zielen. Ein solches kann inur angebahnt
werden, wenn sich die Tschechen zu gemeinsamer
Arbeit mit uns entschließen. Die Bekämpfung der
Teuerung, der Abhilfe des Notstandes der Staats-
angestellten, die Förderung von Landwirtschaft
und Gewerbe, die Herstellung der finanziellen
Ordnung im Staat und Land, sind Aufgaben
die im Interesse aller Völker gelegen, keinen
weiteren Aufschub gestatten. Der Deutsche Natio-
nalverband hat, insolange die Regierung nichts
unternimmt, was die deutschen Interessen schädigen
könnte, keinen Anlaß, seine bisherige Stellung zu
ändern.
Diese Entschließung wurde, wie gesagt, ein-
stimmig gefaßt.
Ueber Antrag des Abg. Dr. von Langen-
han wurde ferner beschlossen, daß morgen in der
Budget-Debatte ein autoritati ves Mit-
glied des Deutschen Nationalverbandes den Stand
des Verbandes zu der gegenwärtigen Lage und
zur Rekonstruktion des Kabinettes klarlegt und
es wurde dazu Abg. Dr. Steinwen der
bestimmt.
Unmittelbar nach der Sitzung des Deutschen
Nationalverbandes begab sich der Vorstand zum
Ministerpräsidenten Freiherrn von Gautsch,
um ihn von dem gefaßten Beschluße in Kennt-
nis zu setzen und ihm den Wortlaut der ein-
stimmig gefaßten Entschließung bekanntzugeben.
Baron Gautsch nahm diese Erklärung zur
Kenntnis und dankte den Vorstandsmitgliedern,
daß sie eine Stellungnahme des Verbandes her-
beigeführt hätten. Der Ministerpräsident kündigte
an, daß er die vom Deutschen Nationalverbande
gefaßte Entschießung in genaueste Erwägung ziehen
und dann weitere Beschlüsse fassen werde.
Wien, 27. Oktober 1911.
Das Ereignis der heutigen Sitzung des Ab-
geordnetenhauses war die mit Spannung erwartete
Rede des Ministerpräsidenten Baron Gautsch,
von welcher man wichtige Aufschlüsse über die
weitere Entwicklung der kritischen Situation er-
wartete. Diese Erwartung wurde nur zum Teile
erfüllt. Nur eines scheint aus den Ausführungen
des Ministerpräsidenten mit aller Deutlichkeit her-
vorzugehen, daß nämlich Baron Gautsch vor-
läufig noch nicht daran denkt sein De-
missionsgesuch zu überreichen. Nach seinem
entschiedenen Eintreten für die Aufnahme der
Tschechen in die Arbeitsmajorität und die Re-
gierung ist nun vielfach der Ansicht, daß der
Ministerpräsident auch weiterhin im Amte zu ver-
bleiben gedenkt und nunmehr, ohne sich mit den
Deutschen in weitere Verhandlungen einzulassen,
zur Ernennung tschechischer Beamten-
Minister schreiten werde. Es verlautet,
daß in diesem Falle den Tschechen das Arbeiten
und das Ackerbauministerium zufallen und
Der heilige Krieg.
In das tripolitanische Kriegsspiel scheint
nunmehr dramatischer Schwung zu kommen. Bis-
her entwickelte sich alles als Variante des be-
kannten Scherzwortes auf das Jahr 1870: Der
eine hat fortwährend eingenommen, der andere
fortwährend übergeben. Nach neuesten Meldungen
treten die Senussi auf den Plan und führen die
Regie des Kriegstheaters. Die Renussi
sind eine fanatische Sekte, deren Mittelpunkt die
Oase Sarabut (Siwah) bildet. Sie sind ge-
schworene Todfeinde des europäischen Einflusses
und haben die Negerstämme Nordwestafrikas bis
zur Mündung des Nigir mohammedanisiert.
Das Auftreten der Senussi bedeutet die Ent-
fesselung des religiösen Fanatismus, die Prokla-
mation des heiligen Krieges, des Kampfes bis
aufs Messer, der jeden Muselman verpflichtet,
Haus und Hof, Amt und Familie zu verlassen
und dem Rufe der grünen Fahne zu folgen.
Es kann schon in allernächster Zeit kein Ge-
heimnis mehr bleiben, ob die Berichte von ge-
waltigen Truppenkonzentrierungen und Rüstungen
im Hinterlande der Cyrenaika auf realer Grund-
lage beruhen. Die Möglichkeit, ja Wahrschein-
lichkeit ist umso weniger von der Hand zu weisen,
als schon früher verschiedene Gerüchte im Umlauf
waren, wonach arabische Scheiks der Pforte ihre
Dienste für einen heiligen Krieg angeboten
hätten. Bis jetzt hat sich das türkische Ministe-
rium all dieser Versuchungen, welche auch auf
europäischen Boden herantraten, erwehrt. Das
ist nicht der letzte Grund der Sympathien, womit
die Türkei rechnen kann.
Sie ist heute um einige Grade nach Westen
gerückt, sie ist Verfassungsstaat, dessen glückliche
Schwergeburt allseits regste Anteilnahme fand.
Es ist doch gewagt, die jüngste Vergangenheit
zu verleugnen und offenen und geheimen Feinden
wieder jene Handhaben zu bieten, die in ver-
gangenen Konfliktszeiten bare Eroberungssucht
mit dem Mantel des Christenschutzes so wirkungs-
voll drapierte. So war es im Jahre 1877
beim Einmarsche der Russen, so ist es noch heute;
der abgefingerte Kunstgriff hat Giolitti wesentliche
Dienste geleistet, die lahme Kriegsbegeisterung in
den Sattel zu heben. Furchtbar ist der Heilige
Krieg den Gegnern stets gewesen; die Engländer
haben es im Sudan, die Russen im letzten Zu-
sammenstoß mit den Türken erfahren. Aber
schließlich — er hat die europäische Türkei hart
an die Existenzfrage geführt. Und die kleinen
Beutepolitiker auf dem Balkan liegen schon lange
auf der Lauer, um bei der Aufteilung der Türkei
ihren Anteil zu erschnappen. Die Gefahr, daß
ein überspringender Funke die Dynamitmine des
Balkans, Mazedonien, wo sich türkische, serbische,
bulgarische und griechische Interessen feindlich
berühren, zur Explosion bringt und zum Aus-
gleich der politischen Spannung die heute über
Europa liegt, in Kriegsgewittern ausartet, diese
Gefahr liegt nahe.
Wien, 26. Oktober 1911.
Dateiname:
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