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Die kranke Frau ist bleich und abge-
zehrt; ihre Farbe ist aschgrau; die tief-
liegenden Augen sind glanzlos, die hohlen
Wangen verrathen Entbehrung und Kummer.
Eine lange, lange Leidensgeschichte ist
auf diesem Gefichte zu lesen.
Neben dem Bette sitzt ein kleines Mäd-
chen von acht oder neun Jahren, dessen
blaue Händchen vor Kälte und Hunger
zittern, am Fuße des Lagers ein etwas
ülterer Knabe, der eben im Begriffe ist,
die erbettelten Brodschnitten und Kupfer-
münzen zu zählen und zu sortiren.
„Es wird schon spät,“ sagte die Mut-
ter mit matter Stimme; „Franz, gib
Mariechen etwas zu essen, iß selbst so viel,
wie da ist, und dann legt euch schlafen:“
„Kommt das Christkindchen denn nicht
zu uns, Mutter?“ fragte die Kleine schüch-
tern, eine Frage, die sie gewiß schon lange
auf dem Herzen hatte.
Die Mutter antwortete nicht, sondern
wendet ihr Gesicht auf die andere Seite,
um dem Kinde nicht die Thräne zu zeigen,
die über die Wange rieselt.
„Ueberall ist das Christkindchen einge-
kehrt,“ plaudert Mariechen weiter, „überall
sah ich helle Fenster; und als ich an einem
hinaufkletterte, sah ich, wie die Kinder um
einen brennenden Baum standen und lach-
ten; ach, Mutter, ein Mädchen hatte eine
so große Puppe!“
Das Kind breitete seine Arme aus, so
weit es konnte, um die Größe der Puppe
zu bezeichnen.
„Sei still, Herzchen,“ sagte die Mutter
und streichelte mit der mageren Hand die
kalte Stirn des schluchzenden Mädchens,
„das liebe Ehristkind hat uns nicht ver-
gessen, aber es hat so viel zu thun; viel-
leicht kommt es später einmal in unser
Dachkämmerchen.“
Kaum hatte sie geredet, als die Thüre
aufging und ein kleines Mädchen von etwa
zehn Jahren eintrat.
Das Kind war wohl gekleidet, und aus
dem Pelzmützchen schaute ein allerliebstes
Gesicht heraus.
In der Rechten schleppte die Kleine
ein Thristbäumchen, das so groß, als sie
selber war, und in der Linken trug sie
einen Korb, der für das zarte Händchen
fast zu schwer war. „Bin ich recht bei der
kranken Frau Baum?“ fragte sie lächelnd.
„Ja, Kind, so heiße ich,“ versetzte die
Mutter sich mühsam aufrichtend. —
„Schöne Empfehlung von Mama, das
Christkindchen schickt Ihnen hier etwas.“
Mit diesen Worten stellte die Kleine
den Baum auf den Tisch, öffnete den Korb
und befestigte stehend Kerzchen, Zierrath
und Zuckersachen an den Zweigen.
Staunend und sprachlos blickten die
Armen dem geschäftigen Treiben der Kleinen
zu, aus deren blauen Augen lauter Glück
und Freude strahlte, und Mariechen jubelte
endlich laut auf, als die Lichter brannten
und das fremde Kind auf den Tisch eine
schöne Puppe, ein wollenes Röckchen und
Mützchen und für den Bruder ein Paar
Schuhelegte.
„Und das Alles schickt uns das Christ-
kindchen?“ fragte Mariechen, die Puppe
schüchtern und zweifelnd aufhebend.
Die kleine Wohlthäterin nickte und rastete
nicht, bis der Korb geleert war; dann ging
sie mit einer großen Flasche Wein auf die
Frau zu und sagte: „Und das wäre für
Sie, Frau Baum.“
Der Frau liefen die hellen Freuden-
thränen über die Wangen und der Mund
ftammelnd zuckend: „Dank, tausendmal herz-
liches Vergelt's Gott!“ liebes Kind!“
Sie konnte nichts mehr sagen, ihr Herz
war zu voll.
Die kleine Dachkammer war so hell er-
leuchtet, wie das prächtigste Zimmer der
Reichen; nur langsam konnten die Kinder
das nnerwartete Glück fassen; dann aber
hüpften sie freudestrahlend und den herr-
lichen Christbaum und zu der Mutter,
musterten die schönen Geschenke und strei-
chelten scheu und dankbar das pelzverbrämte
Mäntelchen der kleinen Wohlthäterin.
Wo aber schlugen in der Stadt an dem
Weihnachtsabend glücklichere Herzen, als
in der Dachkammer, wer war fröhlicher
als die kranke Mutter und ihre armen
Kinder, — und wer zufriedener als das
Herz der Reichen, die von ihrem Ueber-
fluß gespendet, um darbende Mitmenschen
zu beglücken?“
Für das fremde Kind war das Be-
wußtsein, Gutes gethan zu haben, der
schönste Lohn, die beste Herzensbefriedigung,
die höchste Freude am Weihnachtsabend.
Gehet hin und thut desgleichen!
(„K. B.“ New-Y.)
Dateiname:
katholischer-volksfreund-erzaehler-1891-12-20-n51_6910.jp2