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202 Die kranke Frau ist bleich und abge- zehrt; ihre Farbe ist aschgrau; die tief- liegenden Augen sind glanzlos, die hohlen Wangen verrathen Entbehrung und Kummer. Eine lange, lange Leidensgeschichte ist auf diesem Gefichte zu lesen. Neben dem Bette sitzt ein kleines Mäd- chen von acht oder neun Jahren, dessen blaue Händchen vor Kälte und Hunger zittern, am Fuße des Lagers ein etwas ülterer Knabe, der eben im Begriffe ist, die erbettelten Brodschnitten und Kupfer- münzen zu zählen und zu sortiren. „Es wird schon spät,“ sagte die Mut- ter mit matter Stimme; „Franz, gib Mariechen etwas zu essen, iß selbst so viel, wie da ist, und dann legt euch schlafen:“ „Kommt das Christkindchen denn nicht zu uns, Mutter?“ fragte die Kleine schüch- tern, eine Frage, die sie gewiß schon lange auf dem Herzen hatte. Die Mutter antwortete nicht, sondern wendet ihr Gesicht auf die andere Seite, um dem Kinde nicht die Thräne zu zeigen, die über die Wange rieselt. „Ueberall ist das Christkindchen einge- kehrt,“ plaudert Mariechen weiter, „überall sah ich helle Fenster; und als ich an einem hinaufkletterte, sah ich, wie die Kinder um einen brennenden Baum standen und lach- ten; ach, Mutter, ein Mädchen hatte eine so große Puppe!“ Das Kind breitete seine Arme aus, so weit es konnte, um die Größe der Puppe zu bezeichnen. „Sei still, Herzchen,“ sagte die Mutter und streichelte mit der mageren Hand die kalte Stirn des schluchzenden Mädchens, „das liebe Ehristkind hat uns nicht ver- gessen, aber es hat so viel zu thun; viel- leicht kommt es später einmal in unser Dachkämmerchen.“ Kaum hatte sie geredet, als die Thüre aufging und ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren eintrat. Das Kind war wohl gekleidet, und aus dem Pelzmützchen schaute ein allerliebstes Gesicht heraus. In der Rechten schleppte die Kleine ein Thristbäumchen, das so groß, als sie selber war, und in der Linken trug sie einen Korb, der für das zarte Händchen fast zu schwer war. „Bin ich recht bei der kranken Frau Baum?“ fragte sie lächelnd. „Ja, Kind, so heiße ich,“ versetzte die Mutter sich mühsam aufrichtend. — „Schöne Empfehlung von Mama, das Christkindchen schickt Ihnen hier etwas.“ Mit diesen Worten stellte die Kleine den Baum auf den Tisch, öffnete den Korb und befestigte stehend Kerzchen, Zierrath und Zuckersachen an den Zweigen. Staunend und sprachlos blickten die Armen dem geschäftigen Treiben der Kleinen zu, aus deren blauen Augen lauter Glück und Freude strahlte, und Mariechen jubelte endlich laut auf, als die Lichter brannten und das fremde Kind auf den Tisch eine schöne Puppe, ein wollenes Röckchen und Mützchen und für den Bruder ein Paar Schuhelegte. „Und das Alles schickt uns das Christ- kindchen?“ fragte Mariechen, die Puppe schüchtern und zweifelnd aufhebend. Die kleine Wohlthäterin nickte und rastete nicht, bis der Korb geleert war; dann ging sie mit einer großen Flasche Wein auf die Frau zu und sagte: „Und das wäre für Sie, Frau Baum.“ Der Frau liefen die hellen Freuden- thränen über die Wangen und der Mund ftammelnd zuckend: „Dank, tausendmal herz- liches Vergelt's Gott!“ liebes Kind!“ Sie konnte nichts mehr sagen, ihr Herz war zu voll. Die kleine Dachkammer war so hell er- leuchtet, wie das prächtigste Zimmer der Reichen; nur langsam konnten die Kinder das nnerwartete Glück fassen; dann aber hüpften sie freudestrahlend und den herr- lichen Christbaum und zu der Mutter, musterten die schönen Geschenke und strei- chelten scheu und dankbar das pelzverbrämte Mäntelchen der kleinen Wohlthäterin. Wo aber schlugen in der Stadt an dem Weihnachtsabend glücklichere Herzen, als in der Dachkammer, wer war fröhlicher als die kranke Mutter und ihre armen Kinder, — und wer zufriedener als das Herz der Reichen, die von ihrem Ueber- fluß gespendet, um darbende Mitmenschen zu beglücken?“ Für das fremde Kind war das Be- wußtsein, Gutes gethan zu haben, der schönste Lohn, die beste Herzensbefriedigung, die höchste Freude am Weihnachtsabend. Gehet hin und thut desgleichen! („K. B.“ New-Y.)
Dateiname: 
katholischer-volksfreund-erzaehler-1891-12-20-n51_6910.jp2